Marseille – la vie est belle!
Dieser Gastbeitrag ist entstanden im Rahmen des Themenschwerpunkts Frankreich und der angeschlossenen Blogparade.
Was führte mich mit 32 Jahren, immer in Österreich lebend und auch nicht frankophil, geschweige denn frankophon, ausgerechnet nach Marseille? In eine Stadt, deren schlechtes Image sich hartnäckig hält: Schmutzig soll Marseille sein und gefährlich.
Als ehemalige Pressesprecherin der europäischen Kulturhauptstadt Linz09 hat es mich im Frühjahr 2010 zum ersten Mal nach Marseille verschlagen. Der Grund liegt auf der Hand: Marseille stand mitten in den Vorbereitungen für die Kulturhauptstadt Marseille-Provence 2013.
An meinem ersten Abend feierte der hiesige Fußballclub Olympique Marseille als französischer Meister seinen Pokalsieg mit einem großen, öffentlichen Umzug um den Vieux Port (Alter Hafen). Ganz Marseille schien auf der Straße zu sein, Menschenmassen soweit das Auge reichte; Männer, Frauen, Familien mit Kindern und Kinderwagen – und alle waren gut gelaunt, friedlich und einfach nur stolz auf ihren Fußballclub!
Ich muss zugeben, ich kannte eine solche Stimmung aus der heimischen Fußballszene nicht und es hat mich schlichtweg beeindruckt!
Ab diesem Zeitpunkt bin ich immer wieder nach Marseille gereist. Und nach und nach hat mich die Stadt in ihren Bann gezogen! So sehr, dass ich tatsächlich keine zwei Jahre später Wohnung und Job in Wien aufgab und mit Sack und Pack nach Marseille gezogen bin. Ich habe die Stadt und die Umgebung erkundet, die Sprache gelernt, viele nette Leute kennengelernt und inzwischen ein kleines Unternehmen gegründet – kurzum: ich bin hier angekommen!
Frankreich, das ist schon eine Sache für sich, von SÜD-Frankreich ganz zu schweigen. Klischees wie „die Franzosen sind arrogant“, „sie sprechen nur ihre eigene Sprache“ kennen viele.
Ich kann nur sagen, Marseille ist anders! Und für eine Zentraleuropäerin wie mich fast wie eine andere Welt!
Allein schon das Wetter: es tut einfach gut! Meist scheint die Sonne, oft weht der Mistral (Nordwind), dann ist es zwar kalt und unangenehm, aber der Himmel und das Meer leuchten noch blauer! Und das Licht: Bekannte Künstler kamen schon in den Midi (Süden), um zu malen, inspiriert von den Farben und dem Licht! Es ist schwer, dies in Worte zu fassen und zu beschreiben, man muss es schon mit eigenen Augen sehen!
Immer wieder frage ich mich im Geheimen: Wie schafft man es, vom Süden wieder in den Norden zu ziehen?
Das gute Wetter ist allerdings nicht das einzige, an das man sich schnell und gerne gewöhnt. Es gibt noch andere Dinge, die man allerdings erst lernen muss, so zu nehmen, wie sie sind – auch wenn mir als Wienerin die heimatliche Nähe zum Balkan dabei sicher hilft.
Zum Beispiel der Straßenverkehr: Hier muss man schon sehr anpassungsfähig sein, da Verkehrsregeln eher als gut gemeinte Verhaltensvorschläge verstanden werden und sich kaum einer an Ampeln, Zebrastreifen oder Ähnliches hält – am wenigsten die Fußgänger.
So nachlässig die Marseiller bei der Beachtung von Verkehrsregeln sind, so konsequent sind sie bei der Befolgung bürokratischer Abläufe.
Gegen Bürokratie ist ja an sich nichts zu sagen, sofern sie funktioniert. Hier, so kommt es mir vor, müssen allerdings noch drei Schleifen mehr gedreht werden, bis man zur verantwortlichen Stelle gelangt, die allerdings für nichts verantwortlich sein möchte. Bei meiner Unternehmensgründung oder auch bei meinem Wohnungswechsel innerhalb der Stadt habe ich das am eigenen Leib erlebt! Was vielleicht etwas verwunderlich klingt, mir hier aber immer wieder auffällt, ist, dass im Alltag wenig Organisation oder Reglementierung existiert – und das funktioniert gut! Sobald jedoch Organisation wichtig ist, wie beispielsweise bei der Anmeldung einer größeren Gruppe in einem Museum, kann es richtig kompliziert werden. Da heißt es dann tief durchatmen und abwarten.
„Durchatmen und abwarten“ könnte man auch als DAS hiesige Lebensmotto sehen – und ich meine das im positivsten Sinne!
Das Leben in Marseille entschleunigt, wenn man weiß, wie es läuft: Der Kellner wird schon an den Tisch kommen, um die Bestellung aufzunehmen, nur halt nicht in der Minute, in der man Platz genommen hat; das Umzugsunternehmen oder der Handwerker kommen ebenfalls am vereinbarten Tag – nur halt nicht unbedingt zur verabredeten Zeit; die Verkäuferin bedient einen schon, wenn sie sich mit ihrer Kollegin zu Ende unterhalten hat …
Auch das Essen macht Marseille lebenswert! Viele kennen ja den lustigen und nicht ganz unwahren Spruch, dass die Deutschen mit guten Autos in schlechte Restaurants fahren – die Franzosen hingegen mit schlechten Autos in gute Restaurants. In Marseille wird eigentlich immer gegessen! Egal, ob an Feier- oder Sonntagen, die Mittagessen „en famille“ oder mit Freunden können sich bis abends hinziehen, die Mittagspausen mit Arbeitskollegen dauern mindestens doppelt so lange wie bei uns – und auch hier gilt: alles ganz in Ruhe und zudem mit gutem Wein!
Das Schönste an Marseille aber sind die offenen, freundlichen, hilfsbereiten und interessierten Menschen! Ein Großteil der Marseiller sind Zuwanderer oder haben ausländische Wurzeln – das unterscheidet sie nicht unbedingt von Wienern, New Yorkern oder Israelis – aber der Umgang miteinander ist definitiv ein anderer, ein herzlicherer. Was man leider nur selten außerhalb von Marseille mitbekommt, ist, wie außergewöhnlich gut hier das Leben aller Nationen, Kulturen und auch Religionen funktioniert: ein überwiegend friedliches Neben- und Miteinander! Da können sich andere Städte ein Scheibchen abschneiden!
Anfang vergangenen Jahres habe ich hier gemeinsam mit meiner Kollegin Carina Kurta eine Agentur für Kunst-, Kultur- und Kulturhauptstadtvermittlung gegründet – CaP.CULT. Als ehemalige Kulturhauptstadt-Mitarbeiterinnen war und ist es uns ein Anliegen, all jenen Menschen, die nach Marseille und in die Provence kommen, diese in möglichst all ihren Facetten näherzubringen. In kleinen (oder auch größeren), privaten Gruppen machen wir mit unseren Kunden Stadtrundgänge und Ausflüge ins Landesinnere, in offenen und oftmals auch angeregten Gesprächen finden wir Gemeinsamkeiten und vor allem auch Unterschiede zu anderen Städten, wir besuchen Stadtteile abseits des Zentrums, treffen Einheimische, die uns ihre unterschiedlichsten Geschichten erzählen und vieles mehr. So wollen wir einen Gesamteindruck von der Stadt, der Region und ihren Menschen vermitteln und Einblicke in den Alltag geben, die Lebensweise, die Kultur und möglichst alles, was diese Stadt ausmacht.
Als Kulturhauptstadt 2013 hat sich Marseille verändert. Im Zuge dieses (Stadtentwicklungs-)Projektes wurden öffentliche Plätze wie der Vieux Port neu gestaltet, sodass man sich hier wieder gerne aufhält, den Fischmarkt besucht oder einfach nur flaniert. Eine Vielzahl an Museen und Ausstellungshäusern ist entstanden, zum Beispiel das MuCEM – Musée des Civilisations de l‘ Europe et de la Méditerranée, der FRAC – Fonds Regional d’Art Contemporain, das Musée d’Histoire oder die Villa Méditerranée. Aber auch ganze Straßenzüge und Viertel wurden renoviert und revitalisiert. Die Metro fährt jetzt bis nach Mitternacht, die Straßen sind sauberer oder die Stadt ist abends wunderschön beleuchtet.
Marseille ist und bleibt eine Hafenstadt, eine Einwanderungsstadt, eine Stadt mit Problemen … aber welche Stadt hat die nicht?! Das Kulturhauptstadtjahr-Projekt hat einen Stein ins Rollen gebracht: die Stadt hat sich weiterentwickelt und in manchen Aspekten verändert – und das überwiegend zum Positiven! Das Positivste ist aber, dass die Menschen dabei dieselben geblieben sind! Und das ist es auch, was Marseille so lebens- und liebenswert macht! Ganz sicher: ein Besuch lohnt!
- Marseille – la vie est belle! - 24. Januar 2014